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Sprung in den Tod: Bold Guard 1974

11.09.2019Aktuelles
Sprung in den Tod: Bold Guard 1974

In der Folge des Fallschirmjägerunglücks von Bold Guard 1984 wurde die Befeuerung des Nord-Ostee-Kanals von weiß auf gelb geändert. Fotos/Repros: Sopha, Henze

Es dunkelte bereits, als Karl-Heinz Fedders und seine Frau am Abend des 11. September 1974 zwischen Sehestedt und Osterrade spazieren gingen. „Plötzlich hörten wir laute Motorengeräusche und sahen viele Flugzeuge am Himmel“, erinnert Fedders sich. Kurz darauf hörten das Sehestedter Ehepaar die Feuersirene seines Heimatdorfes.

Es war das Nato-Manöver „Bold Guard“

 „Blaue Truppen“ verteidigen Schleswig-Holstein gegen vordringende „Orange-Kräfte“. Sie erhielten Verstärkung aus der Luft. „Eigentlich war die Landung im Raum zwischen Sehestedt und Bovenau auf einer fast freien, von einigen Bäumen umstandenen Fläche in der Ortslage Osterrade bereits um 16 Uhr vorgesehen. Bodennebel über England hatte dann aber zu einer Verzögerung des Abflugtermins geführt“, erklärt Frank Schemmerling in einer Zusammenfassung der Ereignisse*. Außerdem, so stellt er fest, wichen die Windstärke und –richtung von der Vorhersage ab. Dadurch seien die Fallschirmspringer in nördliche bis nordöstliche Richtung über ihre Absprungzone hinaus getragen worden. „Viele von ihnen befanden sich dadurch genau über dem Kanal.“ Hinzu kam: „Die Beleuchtung der Nord-Ostsee-Kanals war zu dieser Zeit noch mit weißen Lampen ausgestattet und vermittelte ihnen den Eindruck einer Straße.“

Absprungort verfehlt

In den Ermittlungsakten heißt es: „Die ersten Befragungen ergaben, dass der Absprung dieser Soldaten offenbar zwei Kilometer zu weit nördlich vom vorgesehenen Absprunggebiet erfolgt sein könnte. Hierdurch waren circa 25 Soldaten mit einigen Lasteneinheiten direkt im Nord-Ostsee-Kanal gelandet. Das Gebiet soll zum Zeitpunkt dieser Übung vollständig abgedunkelt gewesen sein.“

Es geschah in der Dunkelheit.

Eine Landung im Wasser ist für Fallschirmspringer lebensgefährlich. Ihre Ausrüstung ist schwer. Munition, Waffe, Nahrung, Wechselkleidung und ein Stahlhelm auf dem Kopf. Dazu kommt der Fallschirm, der im ungünstigen Fall über ihnen niedergeht und sie zusätzlich unter Wasser drückt. Eine weitere Gefahr bildeten die niedergehenden Lasten.  „Einige Fahrzeuge fielen in die umliegenden Wälder, eines sogar auf das Deck eines vorbeifahrenden Schiffes“, schreibt Schemmerling.

Glück im Unglück hatten jene Soldaten, die in Hochspannungsleitungen hängenblieben. „Sie verdanken ihr Leben nur der Tatsache, dass die Fallschirmseile kürzer waren als die Masten der Leitungen hoch. So bekamen sie aufgrund der fehlenden Erdung keinen Stromschlag und konnten Stunden später – nachdem der Strom abgeschaltet worden war – gerettet werden“, steht in der Dokumentation.

Rote Leuchtkugeln und Sirenenalarm

Als die Sirene ertönte, „eilte ich zur Fähre um nachzusehen, was passiert war“, so Fedders. Er sah, wie das Kanal-Motorboot „hektisch zur Abfahrt vorbereitet wurde. An Bord waren der Bootsführer und eine Frau vom Roten Kreuz. Ich stieg mit zu und wir legten sofort ab.“ An der Unfallstelle „kamen uns Schiffe entgegen, auf denen Militärfahrzeuge und sonstiges Gerät lagen“. Die Sehestedter suchten ungefähr eine Stunde lang, konnten jedoch niemanden finden.

Der vorgesehene Absetzplan.

Das Auf- und Abschwellen der Feuersirene hörte der Sehestedter Heinrich Mohr auf Osterrader Gebiet. „Durch die Bundeswehr war das Gelände weiträumig abgesperrt“, erinnert er sich*. „Aber für uns ortskundige Nachbarn war es nicht schwer, das Hindernis auf längerem Umweg zu umgehen.“ Und so stand er mit zwei weiteren Sehestedtern am Absprunggebiet, als es dunkelte. „Plötzlich schwebten, zarten Wolken gleich, aus dem nächtlichen Himmel pulkweise Fallschirme dem Erdboden entgegen. Im nahen Gehölz krachte und knackte es beträchtlich,  abgeworfene Jeeps und Ausrüstungsgegenstände hatten große Baumkronen niedergebrochen.“

Die Sehestedter sahen rote Leuchtkugeln in den Himmel steigen, hörten das Martinshorn der Sehestedter Feuerwehr und die Sirene. Die Augenzeugen arbeiteten sich zur südlichen Kanalböschung vor. „Ein schlimmer Anblick bot sich unseren Augen – kleine Motorboote kurvten hektisch auf der Wasseroberfläche umher, gespenstisch zerrissen ihre Rundumlichter und Suchscheinwerfer die Dunkelheit. Etliche Fallschirme hingen in den Stromleitungen der Kanalbefeuerung oder lagen an der Kanalböschung halb im Wasser; aufgeregt liefen Soldaten am Ufer umher.“

Aus dem Polizeibericht

40.000 Soldaten nahmen insgesamt an „Bold Guard“ teil – es war damit die bislang größte Nato-Übung in Schleswig-Holstein. Als der Morgen des 12. Septembers 1974 anbrach, war das Ausmaß der Kanal-Katastrophe bereits bekannt. „Gegen

Die tatsächlichen Absprünge.

acht Uhr teilte mir Herr von Conradi, KpSt Rendsburg, fernmündliche mit, dass am 11.9.1974 gegen 21 Uhr am Nord-Ostsee-Kanal in der Nähe der Fähre Sehestedt englische Militäreinheiten im Rahmen des Nato-Manövers mit dem Fallschirm abgesprungen seien“, notierte ein Kriminalbeamter in seinem Bericht.

 „Aus ungeklärten Gründen seien mehrere Soldaten und eine Reihe von Lasten im NOK gelandet. Während der Absprungübung sei der Schiffsverkehr im NOK nicht gesperrt gewesen. Ein Fallschirmjäger sei bereits tot aus dem Kanal geboren worden. Weitere Fallschirmjäger seien in Krankenhäuser eingeliefert worden, weil sie beim Absprung durch ebenfalls niedergehende Lasten verletzt worden waren. Zur Zeit würden noch weitere fünf Fallschirmspringer vermisst werden. Da unmittelbar nach dem Fallschirmabsprung die umliegenden Wälder am Nord- und Südufer des Kanals bereits abgesucht worden seien,  müsse damit gerechnet werden, dass die fünf Vermissten im Kanal ertrunken seien.“

Traurige Bilanz

Insgesamt waren 14 Springer im Nord-Ostsee-Kanal gelandet. Von ihnen konnten acht gerettet werden. Doch für sechs junge Männer im Alter von 21 bis 33 Jahren kam jede Rettung zu spät. Es waren: Captain / Lehrer Gerad Muir,  geboren im Februar 1946 in Glasgow; Kadett / Student  James Cooper; Sergeant/ Postbeamter Elliott Campbell Leask , geboren im Juli 1942 Glasgow; Soldat/ Maurer Edward Beech, geboren im Oktober 1951 in Liverpool; Corporal / Mechaniker Brian John Bett, geboren im Juli 1953 in Hamburg, wohnhaft in Glasgow; Sergeant / Ingenieur Richard Lawson Tomkins,  geboren im Oktober 1939 in Aberdeen

Jährliches Gedenken an die toten Fallschirmjäger. Im Vordergrund Bürgermeister Torsten Jürgens-Wichmann.

Ihre Namen finden sich auf einem Gedenkstein im Südteil von Sehestedt. „Die Plakette wurde in der staatlichen Werft von Rosyth bei Edinburg hergestellt“, erklärt Ortwin Fedders. Er selbst war zur Zeit des Unglücks 18 Jahre alt, im Polizeidienst und abgeteilt worden, um Schaulustige vom Unglücksort fernzuhalten. Am 27. Juli 1975 – einem kühlen und windigen Sommertag — wurde der Gedenkstein mit der Plakette an der Alten Dorfstraße enthüllt. „100 Fallschirmjäger des 4. und 15. Fallschirmjäger-Bataillons (Parachute Battalion) sowie des 272. Fallschirmjäger-Bataillons der Bundewehr waren zugegen“, heißt es in der Dokumentation zum 30. Jahrestag des Unglücks. Außerdem wurde für jeden Gefallenen eine Eiche gepflanzt.

Das Denkmal, genannt auch Schottenstein, beim jährlichen Gedenken in Sehestedt

„In den ersten zehn Jahren nach der Einweihung des Gedenksteins kam immer mal ein Jeep vorbei und wurde ein Kranz niedergelegt“, weiß Ortwin Fedders, dessen Eltern- und Wohnhaus sich direkt gegenüber vom „Schottenstein“ befindet. Die Anteilnahme der Sehestedter Bevölkerung war groß – im Jahr 1975 und sie blieb es auch in den folgenden Jahren. Am 11. September waren stets Gemeindevertreter und Feuerwehr zugegen sowie all jene, die sich noch an das Unglück erinnerten. Bei den Treffen am Schottenstein lernten sich beide Seiten besser kennen. Im Laufe der Jahre entstanden Freundschaften, wurden „Highland Games“ in Sehestedt veranstaltet und die „Whisky Society Sehestedt-Glasgow“ gegründet. Das ist ein weiteres Kapitel der Beziehungen Sehestedt-Schottland, das in extra Artikeln gewürdigt wird. Sabine Sopha

* in einem Gespräch für eine Dokumentation der Ereignisse zum 30. Jahrestag. Danke an Ortwin und Susanne Fedders für die umfangreichen Materialien und Gespräche.

Das „Bold Guard“-Manöver vom September 1974

Was damals geschah – eine Chronologie der Ereignisse

8. September 1974

Es sind die Zeiten des Kalten Krieges. Reservisten und Soldaten der Britischen 16. Fallschirmjägerbrigade werden für das „Bold Guard“-Manöver in Westdown/Schottland zusammengezogen. Die Brigade setzt sich aus den Fallschirmjägerbataillonen 2 und 15 zusammen.

9. September 1974

Überraschend landet eine sowjetische Panzerarmee an der schleswig-holsteinischen Nordostküste. Sie will den Nord-Ostsee-Kanal und seine Brücken besetzen, um Richtung Hamburg vorzudringen. So das Szenario der Nato-Übung.

10. September 1974

Alliierte Truppen sollen schnell an den Kanal gebracht werden, um die Sowjets aufzuhalten. Aber über dem Absprunggebiet des 15. Bataillons liegt dichter Bodennebel. Der Start wird um einen Tag verschoben.

11. September 1974

18.30 Uhr:  36 viermotorige Transportflugzeuge vom Typ C-130 Hercules starten in Lyneham/Wiltshire. 13 Maschinen transportieren die Mannschaften und 23 die Lasten. Sie fliegen im Abstand von etwa 20 Sekunden.

21.00 Uhr: Die Maschinen erreichen das Absprunggebiet am NOK. Die Wetterverhältnisse sind schlechter als vorhergesagt. Mit dem Aufleuchten des grünen Lichtes im Flugzeug beginnen die Männer im Abstand von einer Sekunde abzuspringen.

21.01 Uhr: Gelandete Fallschirmjäger bemerken, dass etwas nicht stimmt. Rote Leuchtkugeln werden abgeschossen. Der Absprung wird gestoppt.

Die letzten fünf Hercules-Maschinen werden zum Flughafen Hohn umgeleitet.

21.02 Uhr: Die Sirenen in Sehestedt geben „Katastrophenalarm“.

21.07 Uhr: Meldung des Lotsen Stoye auf dem polnischen Fischdampfer „Swi 176“ mit Fahrtziel Swinemünde: Eben westlich Kilometer 76 sind einige Fallschirmspringer im Kanal gelandet und schwimmen im Wasser.

21.09 Uhr: Meldung von Lotse Franke auf dem Frachter „Unkas“ west-ost-fahrend: Unverhofft fallen eine Vielzahl von Fallschirmspringern und Jeeps vom Himmel. Leute und Geräte landen rechts und links vom Schiff im Wasser. Menschen schreien um Hilfe.

21.14 Uhr: Absolute Sperre des NOK von Rade bis Königsförde.

21.15 Uhr: Meldung von Lotse Franke auf dem Frachter „Unkas“ W-O fahrend: Ein Auto mit zwei Fallschirmen bei km 77,5 Südseite Kanal zur Böschung hin gelandet. Oberteil vom Auto ragt aus dem Wasser. Der Kanal schwimmt voller Fallschirme.

21.16 Uhr:  Unmittelbar nach Abbruch der Übung suchen britische Soldaten die umliegenden Wälder am Nord- und Südufer des Kanals ab. Sie finden keine Toten.

21.20 Uhr: Die Kanalbeleuchtung auf der Südseite fällt von Landwehr bis Sehestedt aus. Grund ist ein Kurzschluss durch Fallschirmspringer. Laut einer Lotsenmeldung hängen mehrere von ihnen mit Gepäck in der Lichtleitung. Sie leben.

22.37 Uhr: Die Kanalstrecke wird wieder freigegeben. Über UKW werden laufend Warnungen herausgegeben. Es soll möglichst mit Scheinwerfern gefahren werden.

23.15 Uhr circa: In der Schleuse Holtenau meldet die „Unkas“, dass sie etwas Weißes in der Schraube hat. Die Marinetaucher untersuchen das Schiff, dabei wird in der Schraube ein zerrissener Fallschirm gefunden. Dieser wird vom Kanalschlepper „Flemhude“ zur Polizeidienststelle gebracht.

12. September 1974

6.10 Uhr: Auf Kanal-Südseite liegen in einem Abstand von circa 20 Meter zwei kleinere Marinefahrzeuge auf dem Grund. Die Schifffahrt wird gebeten, so weit sie möglich die Nord-Seite zu halten.  Ein Toter wird geborgen – Captain Muir.

9.30 Uhr: Eine Flugunfalluntersuchungskommission begibt sich Richtung Sehestedt

10.00 Uhr: Die Kommission trifft am Unfallort zwischen Kanal-Kilometer 77 und 78, nördlich von Osterrade, ein. Zwölf Minentaucher sind dabei, den Kanal nach Leichen und Lasten abzusuchen.

13 bis 15.00 Uhr:  Britische Fallschirmjäger durchsuchen das Waldstück nördlich des Kanals bis zu einer Tiefe von 500 Metern.

14.05 Uhr: Leiche eines Fallschirmspringers wird aus dem Kanal geborgen.

13. September 1974

In den frühen Nachmittagsstunden werden drei Leichen geborgen.

18. September 1974

Die Besatzung des deutschen Schnellbootes „Puma“ entdeckt den sechsten Toten im Kanal treibend.

Quelle: Ermittlungsberichte von der Kriminalpolizei, Einträge aus dem Wachbuch der Verkehrslenkungsstelle Holtenau, Aussagen von Zeugen und Überlebenden, Artikel der Landeszeitung sowie eine Dokumentation des Museums Sehestedt.